Liebe alle,
ich bin Esther und habe 2013/14 meinen Freiwilligendienst im jüdisch-deutschen Altenheim Hogar Hirsch in Argentinien gemacht. Diese Zeit hat mich wirklich für mein Leben geprägt. Ich schrieb damals in einem Text: „Hier habe ich zu denken angefangen“, und das stimmt bis heute.
Während meiner Schulzeit ist in mir der Wunsch gewachsen, meine Heimatstadt nach dem Abschluss zu verlassen und weit wegen zu gehen, doch nie hätte ich erwartet, dass ich mal ein Jahr in Argentinien leben würde.
Schon beim Vorbereitungsseminar des IB merkte ich, dass der gesamte Freiwilligendienst die absolut richtige Entscheidung für mich war. Ich weiß noch, wie bei den Einheiten der Referet:innen zu Rassismus, Privilegien und kulturbewusster Kommunikation eine Erkenntnis die nächste jagte und ich innerlich immer wieder zwischen Frustration und Begeisterung hin- und herpendelte. Vieles von dem Gelernten konnte ich in Argentinien schließlich hautnah erleben und das sogar zweifach. Nicht nur war ich in einem Land, in dem ganz andere Realitäten und Logiken herrschten als in Deutschland und in dem ich als weiße, deutsche, blonde Frau auf eine bestimmte Art adressiert wurde, zu der ich mich verhalten musste. Ich war noch dazu zum ersten Mal von jüdischer Kultur umgeben und damit auch konkret mit der Last des kollektiven jüdischen Traumas konfrontiert. Als Deutsche mit Nazihintergrund werde ich die vielen Gespräche mit Shoa-Überlebenden nie vergessen, wie etwa die mit der 103-jährigen Bewohnerin Ruth, die mir so detailliert beschrieb, wie sie ihre Heimatstadt Berlin 1938 als junge Frau in einer Schreckensnacht überstürzt verlassen musste, dass ich Gänsehaut bekam.
Heute lebe ich selbst seit fast 10 Jahren in der Stadt, in die Ruth nie wieder zurückgekehrt war, und beschäftige mich viel mit den Themen Migration, Flucht und Vertreibung, eine Lebenserfahrung, die die Bewohner:innen des Hogar Hirschs in Argentinien mit vielen Menschen weltweit gemeinsam haben. Es berührt mich, heute wie damals, dass Menschen gezwungen sind, ihr Zuhause, ihre Familie und ihr gewohntes Umfeld zurückzulassen und es macht mich wütend, wie teilweise mit ihnen umgegangen wird. Als Mitarbeiterin eines Abgeordneten im Berliner Parlament versuche ich aktuell meinen Beitrag dazu zu leisten, dass Migration und gesellschaftliche Vielfalt als Norm und Gewinn anerkannt werden. Leider zeigen die derzeitigen Debatten, politischen Entscheidungen und Wahlergebnisse eher, dass Rassismus und Xenophobie so salonfähig sind, wie lange nicht mehr. Das bereitet mir ernsthafte Sorgen.
Ich habe in letzter Zeit oft gedacht, dass das gesellschaftliche Zusammenleben vielleicht friedlicher und der Umgang mit anderen respektvoller und weniger vorurteilsbehaftet wäre, wenn alle Menschen einen Freiwilligendienst im Ausland gemacht hätten. Ich kann jeder Person nur ans Herz leben, sich einmal irgendwo fremd und sprachlos zu fühlen, das eigene Zuhause so sehr zu vermissen, dass es wehtut, sich mit einer anderen Art zu leben auseinanderzusetzen und darin Schönheit zu erkennen, um schließlich die eigenen Normen zu hinterfragen und anzupassen. Mehr Verständnis und Offenheit füreinander, ist was unsere Gesellschaft dringend braucht.
Eure Esther
April 2024
Das Bild zeigt Esther in Argentinien (2013/2014).
Esther 2024